Unser Wald: Sehnsuchtslandschaft aus ökologischer Sicht
Wir finden Zugang zum Phänomen „Wald“ zunächst vor allem über Gefühle und Emotionen. Dabei wird der Wald zum Sinnbild für Harmonie und Schönheit der Natur, für Ursprünglichkeit, für Beständigkeit und Ruhe. Damit erscheint er als Garant einer intakten Welt und wird zur Sehnsuchtslandschaft, die dem gestressten Menschen Heilung der Seele verspricht. Wer kennt nicht den Spruch „Fühlst Du Dich krank, geh zum Doktor Wald“, und wer spürte nicht, dass unser Gemüt wirklich auflebt, wenn man sich mit wachen Sinnen dem Erlebnis „Wald“ hingibt.
Gegenüber der gefühlsmäßigen Bindung an den Wald ist das Wissen um ihn weit weniger ausgeprägt. So wird übersehen, dass es heute in Deutschland kaum noch ursprüngliche Wälder gibt. Unsere Wälder sind seit Jahrhunderten weitgehend Wirtschaftsfaktor und Lieferant wichtiger Rohstoffe. Viele Menschen sehen in solcher Nutzung der Wälder ein Verbrechen an der Natur. Das führt oft zu aggressiver Anfeindung von Förstern und Jägern. Aber Waldnutzung ist bei unseren naturnahen Lebensansprüchen unverzichtbar. Sie tut jedoch unserer Sehnsuchtslandschaft Wald keinen Abbruch, wenn dabei die ökologischen Spielregeln eingehalten werden und so Nutzung klug gesteuert wird. In diesem Zusammenhang halten wir fest: Jeder Wald ist ein komplex organisiertes Ökosystem, also ein netzwerkartiger Verbund aus Lebensraum (Biotop) und der Gemeinschaft der ihn besiedelnden Lebewesen (Biozönose). Durch die Vernetzung, auf deren Details hier nicht eingegangen werden kann, verkörpert ein Wald eine Art Gesamtorganismus, in dem alle Glieder einander bedingen. In anderen Worten: Wenn an einer Stelle eingegriffen wird, wirkt sich das auf das ganze System aus. Dies gilt es bei forstwirtschaftlicher Nutzung zu bedenken.
Ein weiterer Gesichtspunkt: Durch die komplexe Vernetzung der Einzelglieder gewinnt das Ökosystem Wald die Fähigkeit zur Selbstregulation. Die äußert sich darin, dass ein gesunder Wald bis zu einem gewissen Grad aus sich heraus Störungen ausheilen kann, die ihm natürlicherweise (z. B. Windbruch) oder vom Menschen (z.B. Forstfrevel) zugefügt werden. Die Fähigkeit zur Selbstregulation hängt weitgehend von der biologischen Vielfalt (Biodiversität) des Waldbestandes ab. So kann sich ein artenreicher Mischwald nach Windbruch natürlicherweise schnell wieder regenerieren, während Fichtenmonokulturen, die in Deutschland weit verbreitet sind, durch anthropogene Schadgasbelastung (Beispiel Erzgebirge) oder großflächigen Borkenkäferbefall (Beispiel Bayrischer Wald) irreparabel kollabieren. Vorausschauende Forstwirtschaft ist also bemüht, Artenvielfalt der Baumbestände im Wald zu erhalten oder wieder herzustellen. Dies ist heute eine besonders schwierige Aufgabe, denn es gilt, diese Bemühungen dem Klimawandel anzupassen.
Und schließlich: Ökosysteme, und so auch der Wald, sind offene und damit dynamische Systeme, die ständig Materie und Energie aufnehmen, aber auch abgeben. Wenn sich beides die Waage hält, spricht man von einem Fließgleichgewicht, oder bezogen auf ein Ökosystem, von ökologischem Gleichgewicht. In einem gesunden Wald herrscht also Fließgleichgewicht, das im Idealfall über Jahrtausende stabil ist. Fließgleichgewicht bedeutet aber auch, dass Nutzung des Waldes nicht tabu ist, vorausgesetzt, die Nutzung ist nachhaltig. Vater des Begriffs Nachhaltigkeit, heute zum Modewort verkommen, ist der Freiberger Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz (1645–1714). Sein Credo: „In einem Wald darf nur so viel abgeholzt werden, wie er in absehbarer Zeit auf natürliche Weise oder unter kluger Mithilfe des Menschen regenerieren kann. Damit bleibt der Wald nachhaltig stabil“.
Hier endet der kleine ökologische Exkurs zum Thema Wald. Gönnen wir uns so oft wie möglich für unsere Sinne und Seele ein „Bad“ im Walde (japanisch “Shinri Yokue“). Ein Blick hinter die Kulissen ist dem durchaus zuträglich. Dem soll dieser Text dienen.
Prof. Dr. Manfred Kluge